Schwerpunkt künstlerisch-praktischer Unterricht

„Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, die Kraft der Individualität entfalte sich durch einen rein intellektuellen Unterricht (...). Nur ein Unterricht, der den ganzen Menschen erfasst, anregt, durchdringt, kann es wagen, Bildung der Persönlichkeit zu versuchen. In Waldorschulen wird der Entwicklung von Gemüt und Willen neben dem Intellekt deshalb größte Aufmerksamkeit zu gewendet. Ja, die Förderung der Gemüts- und Willenskräfte entfaltet erst eine gesunde und lebendige Intelligenz und führt zum Erwecken und Reifen der Persönlichkeit.“

(Michael Martin in „Der künstlerisch-handwerkliche Unterricht in der Waldorfschule“, Verlag Freies Geistesleben, 1991)

Anfang der 90er Jahre entschied sich das Kollegium der Freien Waldorfschule Evinghausen, den künstlerisch-praktischen Unterricht zu erweitern. Damals wurden die Schmiede und die Schreinerei neu gebaut; mittlerweile stehen Werkstätten in den Bereichen Metall, Holz, Keramik, Textil, Kunst, Buchbinden, Naturwissenschaft für diesen Unterrichtszweig zur Verfügung. Von der 7. bis zur 10. Klasse lernen die Schülerinnen und Schüler verschiedene Gewerke kennen. Diese Fächer werden in vierwöchigen Epochen von ca. 16 Doppelstunden angeboten (Mo.–Do., 13.30–15.00 h) Dieser verlässliche Arbeitsrhythmus hilft den Schülern, sich mit ihrer Tätigkeit zu verbinden. Neben dem Hauptunterricht am Tagesbeginn klingt der Schultag so mit einem künstlerisch-praktischen Schwerpunkt aus.

Der pädagogische Wert des praktischen Unterrichts

Jede handwerkliche Tätigkeit erfordert einen sachgemäßen Umgang mit Material und Werkzeug sowie Geschick und Sorgfalt in der Verarbeitung. Die Arbeit an einem Werkstück bedingt eine logische Abfolge von Arbeitsschritten. In dem Kennenlernen des jeweiligen Werkstoffs, dem  „Sich-Einleben“ in die notwendigen Arbeitsabläufe und dem Erfahren des Widerstands, den das Material bieten kann, wird vor allem die Willensbildung der Jugendlichen angeregt. Im Ergreifen der vor ihnen liegenden Aufgabe lernen die Schüler sich in den Dienst der Sache zu stellen. Als Ergebnis ihrer Bemühungen halten sie dann ein fertiges Werkstück in ihren Händen – das Ergebnis der eigenen willentlichen Auseinandersetzung mit dem Material. Eine ermutigende Erfahrung einer sinnvollen Arbeit, die ein gesundes Selbstbewusstsein und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wachsen lässt!

Der pädagogische Wert des künstlerischen Unterrichts

Die Kunst ist die Frucht der freien Menschennatur.
Man muss die Kunst lieben, wenn man ihre Notwendigkeit für das volle Menschenwesen einsehen will.
Zur Liebe zwingt das Leben nicht.
Es gedeiht aber nur in der Liebe.
Es will sein Dasein in dem zwanglosen Element.

(Rudolf Steiner)

Das künstlerische Element ist ein wesentlicher Faktor in der Waldorfpädagogik und durchzieht den Unterricht von der 1. bis zur 12. Klasse. In den unteren Klassen erteilt der Klassenlehrer die Malstunden, die einmal wöchentlich stattfinden. Ab der 7. Klasse wird der Kunstunterricht zusätzlich epochal im Rahmen des künstlerisch-praktischen Unterrichts im Nachmittagsbereich erteilt. Es beginnt in der 7. Klasse mit dem Zeichnen (Körperdarstellung und Perspektive), in der 8. Klasse folgt die Druckgraphik (Linolschnitt), gefolgt vom Hell-Dunkelzeichnen und dem Plastizieren in der 9. Klasse. Bewusst wird in diesem Lebensalter auf die Farbe als Gestaltungsmittel verzichtet. Die Malerei beginnt in der 10. Klasse und wird in der 11. und 12. Klasse fortgeführt. Dabei kommen unterschiedliche Maltechniken zum Einsatz (Gouache, Aquarell, Acryl, Öl). In der 11. und 12. Klasse wird dem Suchen nach individuellen künstlerischen Wegen und Ausdrucksformen mehr Raum gegeben.  Am Ende des 12. Schuljahres beschließt eine Kunstaustellung diesen Entwicklungsgang. Gemeinsam mit den Bühnenkünsten, der Eurythmie und der Musik, präsentieren die Schüler bei dem sogenannten Künstlerischen Abschluss die Ergebnisse ihrer künstlerischen Arbeit. Kunstgeschichtliche Aspekte werden gesondert in zwei Hauptunterrichtsepochen in der 9. (Antike bis zur Renaissance) und 11. Klasse (Malerei im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert) unterrichtet.

Ist bei der handwerklichen Tätigkeit stärker die Willensbildung angeregt, wird durch das künstlerische Tun das Fühlen/ die Empfindung gestärkt und gebildet. Vor allem aber kann der selbstverständliche Umgang mit künstlerischen Anforderungen die Jugendlichen auf die vielfältigen Gestaltungsaufgaben des weiteren Lebens in lebendiger Weise vorbereiten.

„Alles, was an Neuem in der Welt geschieht, geschieht durch den Menschen!“ (Joseph Beuys)

Die Fächer des Künstlerisch-Praktischen Unterrichts


5. Klasse: Puppenbau | Gartenbau | Holzwerken
6. Klasse: Puppenbau | Gartenbau | Holzwerken
7.Klasse: Holzwerken | Zeichnen | Gartenbau | Filzen (als Workshop)
8. Klasse: Gartenbau | Druckgraphik | Korbflechten | Schneidern | Tischlern
9. Klasse: Schmieden | Schlossern | Plastizieren | Goldschmieden | Computerkunde | Tischlern | Schneidern - im Wahlbereich: Elektrowerken | Kupfertreiben | Zeichnen | Steinhauen
10. Klasse: Tischlern | Obstbaumschnitt | Schneidern | Naturwissenschaftlicher Kurs, praktisch | Malen - im Wahlbereich: 1.Hilfe-Kurs | Kartonage | Keramik | Weben | Metallbearbeitung
11. Klasse: im Wahlbereich: Malen | Buchbinden | Tischlern | Metallbearbeitung | Naturwissenschaftlicher Kurs | Mikroskopieren | Plastizieren